Protestantismus in Deutschland nach 1918: Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments

Protestantismus in Deutschland nach 1918: Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments
Protestantismus in Deutschland nach 1918: Das Ende des landesherrlichen Kirchenregiments
 
Mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, der Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte, insbesondere der Religionsfreiheit, und der Entstehung des säkularen Staates änderte sich das Verhältnis von Staat und Kirche grundlegend: Staatliche und kirchliche Herrschaft bildeten fortan getrennte Bereiche; dem weltlichen Gemeinwesen standen nun rechtlich selbstständige Religionsverbände gegenüber.
 
In Deutschland war dies keine Selbstverständlichkeit: Im Zuge der Reformation hatten die Landesfürsten »gegen Rom und den Kaiser« politische Macht erlangt. Aufgrund der Regelung »Cuius regio, eius religio« (= Wessen Herrschaftsgebiet, dessen Religion) hatten sie den Bekenntnisstand ihres Landes bestimmt. Mit ihrem Recht in religiösen Angelegenheiten übernahmen sie seitdem die Sorge für das Seelenheil ihrer Untertanen. In protestantischen Gebieten nahm der Fürst als »Landesvater« die Stellung eines evangelischen »Summus episcopus« (= höchster Bischof) ein, er hatte »oberste Bischofsgewalt«. Die Leitung des Kirchenwesens gehörte zu den Aufgaben seiner staatlichen Verwaltungsbehörde, des »Landesherrlichen Kirchenregiments«; es war mit Juristen und Theologen besetzt. Eine solche »äußere Gewalt« hatten die Reformatoren unter den Bedingungen der damaligen kirchlichen und politischen Verhältnisse als »brüderlichen Hilfs- und Notdienst« angenommen. Die Pfarrer waren kirchliche Staatsbeamte und zählten zum akademisch gebildeten Bürgertum. Das geistliche Amt des Superintendenten stand im Dienst einer obrigkeitlichen Sittenzucht.
 
Im 19. Jahrhundert entwickelten die kirchlichen Leitungsorgane, die Konsistorien, jedoch mehr Eigenständigkeit. Der Aufbau von Kirchenordnungen und -verfassungen verstärkte diese Tendenz. Die Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung von 1835 stellte mit der Errichtung einer Synode aus Pfarrern und Gemeindemitgliedern dem landesherrlichen Kirchenregiment eine Vertretung der Gemeinden gegenüber. Doch die »Ehe von Thron und Altar« blieb erhalten. Am Ende des 19. Jahrhunderts existierten in Deutschland noch etwa 30 evangelische Landeskirchen. Sie schlossen sich im Rahmen einer Kirchenkonferenz, der 1852 gegründeten »Eisenacher Kirchenkonferenz«, lose zusammen, sodass ihre Selbstständigkeit nicht beeinträchtigt wurde.
 
Die staatskirchliche Bindung des deutschen Protestantismus währte vierhundert Jahre. Der revolutionäre Umbruch von der Monarchie zur Republik 1918/19 beendete ein Bündnis, das einst in beiderseitigem Interesse geschlossen worden war. Der »Summus episcopus« Kaiser Wilhelm II. floh ins Exil und verzichtete auf den Thron. Zurück blieb die evangelische Kirche, die jetzt einen neuen Status finden musste. Sie wollte sich nunmehr als Volkskirche behaupten. Die Verfassung der Weimarer Republik bekräftigte die Religionsfreiheit und bestätigte das Ende der Staatskirche. Sie gewährte den Religionsgesellschaften eigene Rechtsfähigkeit als »Körperschaften des öffentlichen Rechts«. Obgleich die privilegierte Stellung der Kirchen rechtlich beseitigt wurde, blieb eine Reihe ihrer Vorrechte faktisch bestehen: Pfarrer und Kirchenbeamte standen in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen, Kirchensteuern wurden aufgrund bürgerlicher Steuerlisten erhoben, die Kirche erhielt weitere Staatsleistungen und blieb in staatlichen Institutionen, in Schule, Universität und Krankenhaus, präsent. Es kam also keineswegs zu einer prinzipiellen Trennung von Staat und Kirche. Den Landeskirchen gelang es relativ schnell, die gewonnene Selbstbestimmung in der fälligen organisatorischen Neuordnung zu verwirklichen. Die Bildung von verfassunggebenden Kirchenversammlungen wie die Gestaltung der inneren Rechtsbereiche erfolgten auf verschiedene Weise. Die Kirchenbehörden suchten die Rechtskontinuität zu erhalten und behaupteten in der Regel ihre vorrangige Stellung. Zur Wahrung gemeinsamer Interessen wurde 1921 der »Deutsche Evangelische Kirchenbund« geschaffen. Die verbündeten Landeskirchen behielten volle Selbstständigkeit.
 
Die gesellschaftspolitische Umstellung glückte jedoch nicht. Die Monarchie war zwar untergegangen, aber die Bindung an die Vergangenheit hatte in den Köpfen und Herzen Bestand. Aus der nationalkonservativ-konfessionellen Majorität tönte der Ruf: »Das Reich muss uns doch bleiben!« Die maßgeblichen kirchlichen und theologischen Kreise verharrten in der Distanz zur demokratischen Staatsform; sie hofften auf die Wiedergeburt des Deutschen Reiches. Religiöse und nationale Gläubigkeit wurden unbedacht in eins gesetzt. Im Bündnis mit dem Nationalismus sollte die protestantische Kirche unter bischöflicher Führung die christlichen Grundlagen der Gesellschaft gegen Liberalismus, Sozialismus und einen religionslosen Staat verteidigen. Bei der Wahl des Reichspräsidenten 1925 agierte die evangelische Pfarrerschaft mehrheitlich gegen den Kandidaten der demokratischen Parteien, den Katholiken Wilhelm Marx. Der »Sieger von Tannenberg«, Feldmarschall Paul von Hindenburg, wurde zum Idol der evangelisch-vaterländischen Tradition gekürt und gewann die Wahl. Das landesherrliche Kirchenregiment war beendet. Doch die konservativ-monarchistische Grundhaltung der Kirchenleitungen und großer Teile des Kirchenvolkes überlebte die »Ehe von Thron und Altar«. Damit war die Chance eines kirchlichen Neuanfangs vertan. Die demokratischen Kräfte der Republik konnten sich gegenüber einer alten Leitbildern folgenden Kirche nicht durchsetzen.
 
Prof. Dr. Dr. Erwin Fahlbusch
 
 
Karrer, Leo: Aufbruch der Christen. Das Ende der klerikalen Kirche. München 1989.
 Lübbe, Hermann: Religion nach der Aufklärung. Graz u. a. 21990.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Summepiskopat — Summ|episkopat,   die im Rahmen des Episkopalsystems seit Ende des 17. Jahrhunderts dem evangelischen Landesherrn als dem Summus Episcopus (»obersten Bischof«) zugeschriebene oberste Jurisdiktionsgewalt zur Leitung der Kirche (Kirchenregiment);… …   Universal-Lexikon

  • Kirchenfahne der Evangelischen Kirche in Deutschland — Die evangelische Kirchenfahne Die Kirchenfahne der Evangelischen Kirche in Deutschland trägt auf weißem Grund ein violettes Lateinisches Kreuz. Sie wird als Zeichen bei großen Festen der evangelischen Gemeinden an Gotteshäusern und… …   Deutsch Wikipedia

  • Geistliches Ministerium — (teilweise auch: Evangelisches Ministerium) ist ein Ausdruck der deutschen Rechts und Kirchengeschichte. Es bezeichnete kein Ministerium im modernen Sinn, sondern die Gesamtvertretung der Pfarrerschaft in einem städtischen und insbesondere… …   Deutsch Wikipedia

  • Extertal-Almena — Dieser Artikel oder Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Näheres ist auf der Diskussionsseite angegeben. Hilf mit, ihn zu verbessern, und entferne anschließend diese Markierung …   Deutsch Wikipedia

  • Christuskirche (Paris) — Christuskirche – 25 Rue Blanche Altar Die Ch …   Deutsch Wikipedia

  • Reformation — Die Konfessionen in Zentraleuropa um 1618 Reformation (v. lat. reformatio = Wiederherstellung, Erneuerung) bezeichnet im engeren Sinn eine kirchliche Erneuerungsbewegung zwischen 1517 und 1648, die zur Spaltung des westlichen Christentums in… …   Deutsch Wikipedia

  • Chosebuz — Wappen Deutschlandkarte …   Deutsch Wikipedia

  • Chośebuz — Wappen Deutschlandkarte …   Deutsch Wikipedia

  • Chóśebuz — Wappen Deutschlandkarte …   Deutsch Wikipedia

  • Kottbus — Wappen Deutschlandkarte …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”